Sabine Schiffner
(Deutschland)
orangenmarmelade
und all die zigaretten die wir bis zum bittren
filter rauchten die goldene butter die wir aus dem
supermarkt geklaut ungekühlt schmierten auf das
feine weiße brot der künstler den wir liebten
und der kam mit sekt und großen worten die sahnetorte
die wir dekorierten mit haselnüssen
und mit marzipan und anschließend mit voller lust verspeisten
die zigaretten machen schwere beine fanden wir
beim aufwachen am morgen und zählten wieviel kippen in den
aschenbechern lagen und griffen nach dem ausgedrückten
stummel der vom letzten abend übrig war und tranken dann
den schwarzen beuteltee mit milch und zucker und
aßen fladenbrot das kostet quasi nichts und darauf
butter darauf orangenmarmelade und schauten aus dem
fenster raus auf köln machmal mit schwips
und oft auch hungrig das ist das lustige studentenleben
wir lachten laut und wirr und gingen auf die straßen die
lungen voller rauch im bauch das fladenbrot mit
butter und orangenmarmelade
fremd gedanken, Horlemann Verlag, 2013
melaten
er sagt sein grab
soll auf melaten sein
dort unter hohen alten
buchen er sagt wenn er zum letzten
mal die augen schließt
stellt er sich vor ich würd
ihn dort besuchen er sagt dass
dies sein grab im schatten liegen soll
malt es mir aus und übern rasen komme ich
herbei um seine erde gut zu pflegen
das wäre was ihn neben allem
anderem am leben hält
denn wir sind ganz weit fort
vom schatten auf melaten
sitzen im weißen haus auf
unserer insel hinter
sorgsam zugezogenen gardinen
ich sehe seine augen kaum
sie sind ganz schwarz sind sie
noch offen oder schon verschlossen
frage ich mich als er
sie aufschlägt und
schon wieder damit anfängt sagt
sein grab soll auf
melaten sein
wanderlust
als du dich aus mir rausziehst ertönt
das wandern ist des müllers
lust doch ich kann nicht so
lustig gucken wie du mit
deinen schönen augen im moment
dann schnürst du schon dein
bündel siehst nach vorn nach hinten
sagst ich muss jetzt ins büro
in wirklichkeit als du das sagst
bist du schon fort
du schreibst mir einen brief
auf dem computer und adressierst ihn an
die müllerin was du nicht weißt
auch müllerinnen haben ihren stolz
und ihren preis
sie warten bis das mehl
gemahlen ist und keinen augenblick
mehr länger auch wenn das telefon
verbunden ist bis ins büro
auch wenn nun briefe tröpfeln regnen
was hält mich hier ich gehe fort
das wäre doch gelacht
ich bin die müllerin verträge gibt
es nicht die liebe liebt
das wandern gott hat sie so gemacht
fremd gedanken, Horlemann Verlag, 2013
wo mag denn nur mein christian sein
ein kind das in meinem bauch wuchs war er einer
der irgendwann ohne dass ich es mitbekam
aus meinem nabel fiel und dann
als ich dachte es sei die zeit der geburt
und alles sei weit und bereit
da war er verschwunden
einer der zwischen meinen zähnen steckte dort
wo die zahnbürste nicht hingelangt
einer der in bremen fortging und
nie in hamburg ankam
und einer der ohne anzuhalten aber mit jacke
auf die straße rannte und
mich alleine stehen ließ mit der kapuze in der hand
atemlos bin ich erwacht
fortan war er der
dessentwegen ich fast gestorben wäre in der nacht
einer den ich nach hause kommen hörte
weil er wie immer im treppenhaus
durch die zähne pfiff
aber als ich die tür öffnete um ihm entgegen zu gehen
war niemand zu sehen
einer der weil er meinte dass die welt verrohte
am abend und in der pubertät
aus dem fenster zu springen drohte
einer den ich vermisste übers ganze jahr
einer von dem ich nicht wusste
wann sein geburtstag war
ein jemand der in meinem bauch wuchs war er
ich war einmal durch den nabel mit ihm verbunden
doch er ist eines tages ganz plötzlich verschwunden
male, S. Fischer, 2007
milagro
o libelula!
o libelula! a lebilolu! o libelula!
e libolula!
i lobulale!
o lubaleli!
u labelilo!
o libelula!
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Sabine Schiffner, geboren 1965 in Bremen (DE), Studium der Theaterwissenschaften, Germanistik und Psychologie in Köln. Sie schreibt Hörspiele, Gedichte und Romane und hat für ihre Texte zahlreiche Preise und Stipendien erhalten, u. a. den Jürgen-Ponto-Preis der Dresdner Bank (2004 für „Kindbettfieber“ , S. Fischer) und den Förderpreis der Deutschen Schillerstiftung (2013 für ihr lyrisches Gesamtwerk). Sie ist als Herausgeberin, Lektorin und Übersetzerin tätig und lebt mit ihrer Familie in Aachen.