Renate Schmidgall
(Deutschland – Poland)
Zwei Gedichte aus Krakau
(1)
Begrüßt wurde ich von der Abendsonne,
die in der Kastanie die Kerzen entzündete.
Die Tage waren blau und schienen unendlich.
Nachts klopften mit hartem Klang Falter ans Fenster.
Über mir blinkte das rote Auge, im Traum
verwandelte sich mein Fotoapparat
in etwas Weiches wie Brot oder Lehm.
Auf den Planty, unweit der Szewska, trafen sich
ein junger Mann und ein Mönch und umarmten
sich herzlich – ein Moment wie aus einem Gedicht
von Zagajewski. Leidenschaft oder Geborgenheit –
wir können nur eines haben.
(2)
Zwei Nonnen in weißen Gewändern
gehen durch die Królowej Jadwigi,
an einem Vormittag im Mai, ihr Lachen
hängt in der warmen Luft, und der Flieder
stimmt leuchtend zu. Hinter einem Holzhaus
mit geschnitzten Verzierungen versinkt
ein Opel im Gras, geschmückt mit
Löwenzahn und Vergißmeinnicht.
Kleine Flöckchen Pappelflaum torkeln
durch den Park. Noch fünf Minuten
zu Fuß, vorbei an der ausladenden Geste
Chopins, durch das Grün, über den Weg
mit knorrigen Ästen – und ich bin
in meinem vorübergehenden Zuhause.
Stabiler als jedes andere.
(Krakau, Mai 2009)
Reife Kirschen
Wieder war es Sommer, wir pflückten
die Tage wie reife Kirschen, der blutrote Saft
klebte an den Händen der Kinder, die Münder
weit offen: so unendlich die Welt.
Auf dem Spielplatz, am Abend, badeten
Spatzen im Sand. Unsere Lippen fanden sich
wieder und wieder – eine Berührung
aus der Tiefe der blinden Zeit.
Daß wir mit der Nacht vergehen, wie das
Glück, wie sein Echo, das in den
Morgengeräuschen hängt: Dusche, Schranktür,
das Rascheln der Tüte mit dem Brot.
Deine Stimme, die das Kind weckt.
Granada, März
(1)
auf den Gipfeln der Sierra
frischer Schnee
zwei Berge unberührt
liegen wir nebeneinander
heute frieren die Orangen
am Bäumchen vor dem Hotel
(2)
Die Katze am Fenster, neben dem Strauß
roter Tulpen, der das leuchtende Haus
im Albaicín noch weißer macht,
die Katze weiß nicht, daß sie ein Teil
dieser Schönheit ist. Nichts fehlt ihr,
wenn sie döst in der Mittagssonne.
Stirbst du nicht diesen Tod, wirst du
einen anderen sterben. Indessen
spielen Kinder im Sand, bauen Burgen,
die Möwe hinterläßt ihre Spur: flüchtig
wie deine Hand auf meinem Arm.
Bei Vollmond streiten wir uns. Strömung
trägt Land ab, Wind formt Bäume.
Am Kirchturm rostet die Zeit. Kein Verlaß
auf Uhren oder Gestirne.
So schleppe ich meine Kindheit von Wohnung
zu Wohnung, ungeöffnet. Als käme irgendwann
die Erleuchtung aus diesen Kisten,
ein Blitz, der alles erhellt: die trockene
Kehle, wenn die Luft, von Wein gesättigt,
in lauten, rauchigen Zimmern steht, wenn
uferlos Lachen die Wände durchbricht;
die Angst im Bauch, wenn einer die Tür schließt.
Sontheim, November
Friedhof, bei den Eltern. Fast hätte ich
das Grab nicht gefunden. Auf der Marmorplatte
verwelkte braune Eichenblätter. Diesmal
singt kein Vogel.
Der Blick auf den Neckar, den Wasserturm,
auf Böckingen, auf den Herbst. In mir.
In Dalmatien
Über einer schmalen Gasse in Betina
lodert heller Lärm:
junge Schwalben auf den Drähten, eine volle
Notenlinie Gezwitscher.
Umgeben vom blauen Wasser der Adria,
eine Insel wie Hunderte.
Doch das Schwälbchen mit dem schicken
schwarz-weißen Frack,
das einzige, das sitzen bleibt,
singt nur für mich.
Morgens um sieben in Pirovac
Auf den Tamariskenbaum fällt die flache Sonne.
Über die Steine flitzen Eidechsen.
Ein Stück weiter Vogelstimmen
im Olivenhain, Spinnweben am verrosteten Tor.
Zart ist der Morgen, unbemerkt
von den Menschen.
Eine Möwe segelt über das glatte Wasser,
begleitet von ihrem Schatten.
Winterlicht
Winterlicht, das geometrische Muster des Schnees
auf den Dächern und der Mond eine weiße Feder.
Aus dem Schornstein steigt Rauch und duckt sich
in der kalten Luft.
Worte aus fremden Gedichten ziehen vorbei
und reißen ein Loch in den Himmel.
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Renate Schmidgall ( 1955 in Heilbronn) ist eine deutsche Übersetzerin aus dem Polnischen.
Renate Schmidgall studierte Slavistik und Germanistik in Heidelberg. Von 1984 bis 1990 arbeitete sie als Bibliothekarin am Deutschen Polen Institut in Darmstadt, von 1990 bis 1996 ebenda als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Seitdem ist sie freie Übersetzerin für polnische Literatur. Die bekanntesten Autoren, die sie bisher übersetzt hat, sind: Stefan Chwin, Witold Gombrowicz, Paweł Huelle, Mirosław Nahacz, Andrzej Stasiuk und Wisława Szymborska.
Renate Schmidgall lebt in Darmstadt. Für ihre Arbeit erhielt sie 2001 den Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung und 2006 den Europäischen Übersetzerpreis Offenburg. 2009 wurde sie gemeinsam mit Ryszard Wojnakowski mit dem Karl Dedecius-Preis ausgezeichnet.