Renate Schmidgall
(Deutschland)
Danzig, immer wieder, aber zum ersten Mal
wohne ich mitten in der Altstadt. Es sind die kleinen
Bilder, die bleiben: die Spatzen, die in einer Seitenstraße
in der Pfütze baden, die verschlungenen Schatten der Geländer
an den Beischlägen in der Heiliggeistgasse, das helle Grün
der Bäume gegenüber dem Haus mit der Schildkröte,
in dem Johanna Schopenhauer geboren wurde.
Eine alte Frau mit einem Maiglöckchenstrauß in den Händen.
Ansichtskarten aus Polen, kleine Mitteilungen
über einen Augenblick, über meine Existenz an einem Ort,
der von jetzt an mir gehört, mir verbunden durch das Atmen
der Luft, meinen Blick auf die Landschaft, die Bilder in mir.
Die fremde Sprache, die mir ans Herz wächst
und Blüten treibt.
Album
Zwischen den schwarzen Seiten
webt die Spinne ihr Netz.
Auf weiß geränderten Fotos
Kinder in steifen Kleidern,
die Familie unter dem Christbaum,
stattliche Männer in Uniformen.
Der lächelnde junge Soldat, der
die Hand meiner Mutter berührt,
kam nicht aus Russland zurück.
Darmstadt, 4. Januar
Am Morgenhimmel schimmern
hell die Streifen der Flugzeuge,
hinter dem mistelgespickten Baum
fliegt eine Taube vom Dach.
Nichts ist anders als gestern,
doch plötzlich findet das Gedicht
wieder Raum in mir, baut sein Nest
wie die Elster drüben, nimmt sich
ein Stück der glitzernden Welt.
Die Gedichte sind erschienen in dem Band: Schmidgall, Renate: Pojechać do Weinsberg./Nach Weinsberg fahren. Poznań: Wyd. Telgte 2018.
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BIO
RENATE SCHMIDGALL – geb. 1955 in Heilbronn; Studium der Slawistik und Germanistik in Heidelberg. 1984-1996 Mitarbeiterin am Deutschen Polen-Institut Darmstadt. Seit 1996 freie Übersetzerin und Autorin. Für ihre Übersetzungen zeitgenössischer polnischer Prosa und Lyrik erhielt sie mehrere Preise, zuletzt 2017 den Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Lebt in Darmstadt.