Nikola Madzirov
Die Schatten ziehen an uns vorüber
Eines Tages werden wir einander begegnen,
wie ein Papierschiffchen und eine
Melone, die im Fluß kühlt.
Die Unruhe der Welt wird
mit uns sein. Mit den Handflächen
werden wir die Sonne verdunkeln und
mit Laternen aufeinander zugehen.
Eines Tages wird der Wind
seine Richtung nicht ändern.
Die Birke wird ihr Laub ausstreuen
in unsere Schuhe vor der Schwelle.
Die Wölfe werden den Spuren
unserer Unschuld folgen.
Die Schmetterlinge werden ihren Staub
auf unseren Wangen hinterlassen.
Jeden Morgen wird eine alte Frau
im Wartezimmer von uns erzählen.
Auch was ich hier sage, ist bereits
gesagt: Wir warten auf den Wind
wie zwei Flaggen an einem Grenzübergang.
Eines Tages werden alle Schatten
an uns vorüberziehen.
Zuhause
Einst lebte ich am Ende der Stadt
wie eine Straßenlampe, deren Glühbirne
niemand wechselt.
Das Spinnennetz hielt die Wände zusammen,
der Schweiß unsere verbundenen Hände.
In den Metamorphosen der ungeschickt
zusammengemauerten Steine versteckte ich
den samtenen Teddy, um ihn vor dem Traum retten.
Tag und Nacht belebte ich die Schwelle, indem
ich zu ihr zurückkehrte wie eine Biene, die
immer wieder zur vorhergehenden Blüte zurückkehrt.
Es war Frieden, als ich mein Zuhause verließ:
Der angebissene Apfel war noch nicht dunkel geworden,
auf dem Brief klebte eine Marke mit einem alten verlassenen Haus.
Von Geburt an bewege ich mich auf die stillen Räume zu,
und unter mir haften Leeren
wie Schnee, der nicht weiß, ob er zur
Erde oder zur Luft gehört.
Bevor wir geboren wurden
Die Straßen waren asphaltiert,
bevor wir geboren wurden und
alle Gestirne bereits formiert.
Das Laub faulte am Rand
des Gehsteigs vor sich hin.
Das Silber lief auf der Haut
der Arbeiter schwarz an.
Jemandes Knochen wuchsen
die Länge des Schlafs hinunter.
Europa vereinte sich,
bevor wir geboren wurden, und das Haar
eines Mädchens breitete sich ruhig
über die Oberfläche
des Meeres aus.
Wenn jemand fortgeht, kommt alles Erschaffene zurück
für Marjan K.
An der Umarmung hinter der Ecke wirst du erkennen,
daß jemand fortgeht, irgendwohin. Es ist immer so.
Ich lebe zwischen zwei Wahrheiten
wie eine Neonröhre, die in einem leeren
Hausflur flackert. Mein Herz sammelt mehr
und mehr Menschen, weil sie nicht mehr da sind.
So ist es immer. Ein Viertel des Wachseins
verbringen wir mit Blinzeln. Die Dinge
vergessen wir, noch bevor wir sie verlieren –
das Schönschreibheft, zum Beispiel.
Nichts ist neu. Der Sitz
im Omnibus ist immer warm.
Die letzten Worte werden wie schiefe
Eimer zu einem gewöhnlichen Sommerbrand getragen.
Morgen wird sich dasselbe aufs neue wiederholen –
bevor das Gesicht von der Photographie verschwindet,
wird es zuerst seine Falten verlieren. Wenn jemand fortgeht,
kommt alles Erschaffene zurück.
Es wird uns folgen
Eines Tages wird jemand unsere Wolldecken zusammenlegen
und sie zur chemischen Reinigung schicken,
damit man aus ihnen auch das letzte Körnchen Salz entfernt,
er wird unsere Briefe öffnen und sie chronologisch ordnen
statt danach, wie oft wir sie gelesen haben.
Eines Tages wird jemand die Möbel im Zimmer verschieben
wie Schachfiguren bei der Eröffnung eines neuen Spiels,
er wird den alten Schuhkarton aufmachen, in dem
wir die abgefallenen Knöpfe der Pyjamas aufbewahren,
die halbvollen Batterien und den Hunger.
Eines Tages kehrt der Schmerz in unsere Wirbelsäule zurück,
verursacht durch das Gewicht der Hotelschlüssel und
das Mißtrauen, mit dem man uns an der Rezeption
die Fernbedienung gibt.
Das fremde Mitgefühl wird uns folgen
wie der Mond einem verirrten Kind.
Viele Dinge sind geschehen
Viele Dinge sind geschehen,
während die Erde sich auf
Gottes Finger drehte.
Die Drähte befreiten sich
von den Fernleitungen, jetzt verbinden
sie eine Liebe mit der anderen.
Die Tropfen des Ozeans
lagerten sich ungeduldig
an den Höhlenwänden ab.
Die Blumen trennten sich
von den Mineralien und
folgten dem Duft.
Aus der Gesäßtasche flogen
Zettelchen durch unser durchsichtiges Zimmer:
unbedeutende Dinge, die wir nie
tun würden, wären sie nicht
für uns aufgeschrieben.
Aus dem Makedonischen vonAlexander Sitzmann
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Nikola Madzirov wurde 1973 in Strumica geboren. Er ist einer der distinguiertesten Dichter Mazedoniens. Madzirovs Gedichte sind bereits in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und in Zeitschriften und Anthologien in Mazedonien und international veröffentlicht worden. Für sein Buch Der umgesiedelte Stein (2007) wurde Madzirov mit dem Hubert Burda-Lyrikpreis und dem wichtigsten mazedonischen Lyrikpreis, dem Miladinov Brothers, ausgezeichnet. Für sein Buch Eingeschlossen in der Stadt (1999) erhielt er die Studentski Zbor-Auszeichnung für das beste Debüt. Auch seine Gedichtsammlung Irgendwo nirgendwo wurde ausgezeichnet, mit dem Aco Karamanov-Preis. 2008 komponierte Oliver Lake, der einer der originellsten zeitgenössischen Jazzkomponist ist und bereits mit Björk und Lou Reed zusammengearbeitet hat, Musik auf der Grundlage von Madzirovs Gedichten. Die Ergebnisse wurden auf dem Jazz Poetry Concert in Pittsburgh (USA) aufgeführt. Madzirovs Lyrik war auch die Inspiration für zwei Kurzfilme, die in Kroatien und Bulgarien gedreht wurden. Madzirov veröffentlichte bisher Lyrik, Essays und Übersetzungen. Er ist der Lyrikeditor des E-Magazins für Literatur und Kultur, Blesok. Außerdem ist Madzirov der mazedonische Koordinator für Lyrikline. Der Dichter hat bereits an vielen internationalen Lyrikfestivals teilgenommen, u. a. am International Poetry Festival in Nicaragua, am Poetry Spring in Litauen, am Jazz Poetry Concert in den USA; an der Ars Poetica in der Slowakei, an den Struga Poetry Evenings in Mazedonien, am Vilenica und am Medana in Slovenien. Madzirov hat bereits zahlreiche internationale Stipendien erhalten, u. a. vom International Writing Program (IWP) an der Universität von Iowa (USA), vom Literarisches Tandem in Berlin, das KulturKontakt-Stipendium in Wien, vom Internationales Haus der Autoren in Graz, vom Literatur Haus NÖ in Krems und von der Villa Waldberta in München.