Monika Littau
(Deutschland)
Auszug aus dem Roman über die Sintizza Margarethe Goussanthier
Vom Sehen und Sagen. Die Buchela
Kapitel 38 (gekürzt).
Es ist für sie leicht zu sagen, was sie noch hat. Wen es noch gibt. Wer noch übrig
ist. Ganz leicht kann sie sie aufzählen. In nur ein paar Worten geht das:
Engelsüßchen, Dotla, Rafflo. Und Princo, Dotlas Sohn.
Das sind alle.
Daj haben sie geschnappt. Bei Lyon.
Dauernd sieht Buchela Bilder von einem Lastwagen, der durch das Land rumpelt.
Von Eisenbahnwaggons, voll gepfercht mit Menschen. Und mittendrin Josele, der
nur auf die Hintern und Beine der Leute schauen kann, weil sie alle stehen und er
noch so klein ist. Und natürlich sieht er auf den Boden mit dem bisschen Stroh, von
dem es bestialisch stinkt.
Daj schafft Platz mit dem Ellenbogen, Platz für sich und Maria.
Aber wie lange hat sie das geschafft? Wie lange konnte sie die Kleine überhaupt auf
dem Arm halten. Schwach war Daj schon in Köln. Auf jeden Fall nicht stark genug für
so eine schreckliche Reise. Der am Ende sowieso niemand gewachsen war.
(…)
Sie waren in ihrer kleinen Familie mal sieben. Zusammen mit den Kindern zehn und
mit den Goussanthiers zwölf. Und jetzt sind sie noch fünf. Das ist weniger als die
Hälfte. Und bei der Rechnung der Toten hat sie ihren Kleinen, der nicht leben konnte,
gar nicht mitgezählt.
Alle gestorben. Ganz unnatürlich. Und das ist nicht gerecht. Das ist ein Betrug an ihr
und an den Sinti. Auch wenn jetzt der Krieg zu Ende ist, der Hitler tot und alles
besser anfangen soll. Man hat ihnen die Zukunft genommen. Und das ist das
Schlimmste.
(…)
Frauen kommen zu ich r in die Baracke. Jede will wissen, was mit ihrem Mann ist?
Was mit dem Sohn? Was mit den Geflüchteten? Buchela sieht ihnen in die Augen.
Sie blickt auf die Fotos, die sie mitbringen. Sie legt ihre Hand an die Schläfe. Sie
wendet den Blick nach innen. Ja, er kommt. Er ist noch gefangen in Russland, in
England, in Belgien, in Frankreich, in Amerika, am Rhein. Er überlebt. Und er wird
kommen, bestimmt. Wenn sie das Gegenteil sieht, zuckt sie mit den Schultern und
sagt, dass sie nichts sehen kann zu dieser Person. Aber zu einer anderen und
entlässt die Frau mit einer guten Nachricht über den Onkel oder den Neffen oder die
Großmutter oder sonst wen. Sie kann das nicht. Sie kann nicht sagen, wenn einer
nicht mehr kommt. So viele Tote hat sie noch nie gesehen. Die Mule[1] gehen um.
Aber die Gestorbenen sind trotzdem erlöst irgendwie, während hier unten alle weiter
machen mit dem Leben und mit dem Schmerz.
Alle sind umgeben von Toten. Deshalb darf sie sich eigentlich gar nicht beklagen.
Aber es nutzt nichts, sich das vorzureden. Tot ist zwar tot, aber Daj, Josele, Maria
und Anna sind so unschuldig gestorben, wie gar kein Soldat hat sterben können.
Das ist ganz etwas anderes.
Sie blickt auf den Altar, der auf ihrer Kiste unterm Fenster steht. Bei ihr ist immer
Weihnachten, Ostern und Marienzeit. Sie lässt ihn aufgeklappt wie an diesen
Festtagen, damit sie den Auferstandenen sehen kann, der wie die Sonne selbst
leichtfüßig und doch fest am Horizont aufzugehen scheint. Seine Augen sitzen wie
Knöpfe im strahlenden Licht. Die Konturen, der Umriss der Haare verschwinden
darin. Um seine Erscheinung spannt sich kreisrund ein Kosmos von Helligkeit, die in
einen türkisfarbenen Ring übergeht, einem Firmament mit Sternen besetzt. Selbst die
Wundmale Cretschunos scheinen zu strahlen und er hält seine Hände beschwörend
nach außen gewendet, so dass alle sie betrachten können.
So möchte sie sich auch die Ihren vorstellen. Josele, ein Lichtjunge. Maria wie das Jesuskind in der Mitte des Altars. Anna hält die Kleine auf dem Arm.
Nur einmal hat sie beim Altar die anderen Bemalungen betrachtet. Den Antonius, der
von fürchterlichen Dämonen getreten, gebissen und gekratzt wird. Gehörnte Wesen,
Greifvögel, Reptilien mit Stöcken, mit Krallen, mit spitzen Zähnen und Schnäbeln.
Und ganz unten im Bild liegt ein Wesen mit aufgeblähtem, grünem Bauch, dessen
Haut von Pusteln und Wunden überzogen ist. Der hat das Antoniusfeuer.
Nein, Dämonen hat sie genug gehabt in den vergangenen Jahren. Und auch den
Gekreuzigten mag sie nicht sehen. Nur das, was ihr Hoffnung gibt: die Verkündigung
Sunto Marias, die Geburt von Cretschuno Jesus und seine Himmelfahrt.
Den Altar hat ihr der Vogelmann mitgebracht. Er macht ihr manchmal Geschenke.
Der Altar kommt aus Colmar, sagt er, und da steht er riesengroß in einer Halle
ausgestellt. Und das hier ist nur eine kleine Nachbildung. Aber trotzdem ist alles drin,
das ganze Leben.
Sie versenkt sich in das Bild von Cretschumo-Jesus. Sie schließt die Augen und das
Bild breitet sich in ihr aus, dass es innen hell wird und warm. Der Atem weitet sich.
[1] Mulo: in der Vorstellung von Sinti und Roma Untoter/Toter, der nicht zur Ruhe kommt.
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Monika Littau
geboren in Dorsten, studierte Germanistik, Geographie und Musikwissenschaft in Bochum und Münster. Sie war mehr als 20 Jahre in Forschung, Bildung und Kulturförderung tätig, arbeitet nun seit 2007 als freie Autorin, konzipierte und betreut den Lyrikwettbewerb postpoetry.NRW.
Veröffentlichungen (Auswahl):
- Wo du die Welt von unten sehen kannst. Sri Lanka – Ein Textzyklus, Weißenburg 1983.
- Trümmerfrauen, Theaterstück (zus. mit G. Koch), Dortmund 1987.
- Immer schön hinten anstell´n, Madame, Hörspiel (zus. mit G. Koch), WDR, 9.5.1988.
- Der Goldfisch, Literaturvideo, Dortmund 1988.
- „Nachts fällt mir so viel ein …“ Geschichten aus der Lebensgeschichte alter Menschen, Dortmund 1989.
- Paare pur und Plagiate. Lyrik und Prosa in vier Monden, Dortmund 1992.
- Himmelhunger – Höllenbrot. Erzählung, Dortmund 2000.
- Alphabetta in Alphabettanien. Erstlesebuch mit Spielebegleitheft (Illustrationen von Christine Bozler), Vechta 2007, 2. Aufl. 2008.
- BEIM ÜBERSCREITEN DES TAUPUNKTS. Gedichte, Bochum 2011.
- Vom Sehen und Sagen. Die Buchela. Ein Biografieroman, Bochum 2012.
- Fritzi findet. Kinderbuch, Berlin, 2013
- Ich bin bunt. Erzählungen, E-book, Saarbrücken 2013.
Auszeichnungen und Förderungen:
1988 Förderpeis für junge Künstler des Landes Nordrhein-Westfalen
1992 Förderung durch den Kunst- und Kulturfonds der Stadt Witten
1999 Arbeitsstipendium des Landes Nordrhein-Westfalen.
2002 Sieger im Wettbewerb „Begegnung Osteuropa“ des Ministeriums für Arbeit und Soziales NRW (mit einer Klasse 6)
2010 und 2012 Aufenthaltsstipendium im Internationalen Schriftsteller- und Übersetzerzentrum Rhodes (IWTC)
2012/13 Stipendium der Film- und Medienstiftung NRW
Weitere Informationen u. a. unter: www.monika-littau.de