Mihaela Claudia Condrat
(Rumänien-Deutschland)
BABYLON
Ich suche namen
schreibe sie auf bewegte zettel
finde die worte nicht
sie sind an mutters brust verblieben
in ihrem wesen eingeschlossen
mit ihnen – so heißt es –
kämen wir leichter
durch das leben
hinweg über den tod
wer wird für uns sprechen
mit welchen worten
wie
wenn ich nicht mehr sein werde
wenn wir nicht mehr sein werden
wir werden mit den bildern sprechen
vom sonnenuntergang
werden uns auf die zeichen stützen
von da wo sie aufgeht
werden mit gedanken uns ausdrücken mit ideen
oder schweigen oder beten werden wir
schließlich wird gott der gerechte doch
das ohr neigen hin zum geräusch
eines fingers zwischen die klingen geraten
DELIRIUM DES DICHTERS
Die hand die nicht mehr schreiben will
die hand die verraten hat
das schreiben das verrät
der schmerz der schlägt
der freund dessen sehen krank ist
hat vergessen
die hand wie einen flügel
dekomponiert
finger nach finger
ist erde geworden
DAS TURINISCHE PFERD
(The Turin Horse, B. Tarr)
Die dinge geschehen um durch das geschehen
einfacher zu werden
das leben hat nur zwei räume
durch einen geht der tag durch den anderen die nacht
dazwischen ab und zu ein altes pferd
eine kartoffel ist mehr als genug
aber ein verwünschter brunnen ist weniger
der ort wird böse und muss gewechselt werden
ein bild wird zum schatten eines tages
die erde hat den himmel begraben
die sonne wird wohl anderswo wohnen
wie auch das sprechen der menschen
diese beiden haben etwas gemeinsam
zum beispiel können sie dich erblinden lassen
doch das leiden ist immer wach
wie das abnehmende licht
das leben dauert überall gleich lang sechs tage
der siebte ist für aufbruch und wiederkehr
das kann alles letztendlich in einem koffer
zusammengedrängt werden
sagte das turinische pferd
und ging weg um ein bisschen verrückt zu werden
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Mihaela Claudia Condrat, in Rumänien-Bilbor geboren, hat Theologie, Philologie und Pädagogik in Hermannstadt und Tübingen studiert. Sie war Gymnasiallehrerin und hat eine Promotionarbeit über moderne Lyrik und das religiöse Imaginär geschrieben. Verschiedenen Aufenthaltsstipendien und Studienreisen in Österreich, Schweiz und Deutschland zur Vertiefung ihrer Kenntnisse in Kulturtheorie, Ästhetik, Ethik und Kunst. Sie veröffentlicht zahlreiche Gedichte in rumänischen und deutschen kulturellen Zeitschriften und Anthologien. Gestaltet Lyrikabende und übersetzt ins Rumänisch deutsche Autoren u.a. Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Erich Fried, Hilde Domin. 2014 erschien in Rumänien ihr erster Gedichtband: Distopia. câteva exerciții de înnebunit frumos (Dystopie. Einige Übungen um schön verrückt zu werden). Zuletzt vorbereitet sie ihren deutschen Gedichtband: dystopie. impromptu über schön verrückt zu werden. Seit 2010 lebt sie mit ihrer Familie in Tübingen.