Marion Hinz
(Deutschland)
Sehnsucht
Sehnsucht geht um
reist durch die Welt
fährt durch dein Haar
über die Stirn die Augen
den Mund mitten
hinein in dein Herz
Sehnsucht geht um
verdunkelt das Licht
erhellt die Finsternis
erscheint bei Tag und bei Nacht
verführt verrückt vergeht nicht
Sehnsucht geht um
überall dort
wo du nicht bist
ist sie zu Haus
im Schneckenhaus
im Schloss in der Burg
Sehnsucht geht um
wie ein Gespenst
irrt sie umher
spukt sie durchs Haus
lacht und weint zugleich.
Die Balance
Die Balance hat Ausgang
sie hat mich gefragt und
ich habe es ihr erlaubt
schließlich dient sie mir
so lange so treu schon
wie also hätte ich ihr diese Bitte
nicht gewähren sollen
die Balance hat heute ihren freien Tag
sie hat sich hübsch gemacht und
ihren feinen weißen Mantel angezogen
als erstes hat sie sich auf die Brücke gestellt
dann ist sie auf das Geländer gesprungen
dann hat sie die Arme ausgebreitet und
dann ist sie davongeflogen übers Wasser
ihre Haare wehten im Wind
zuerst sah sie glücklich aus
dann weinte sie ein wenig
vielleicht weil ihr der Wind
Tränen in die Augen trieb
vielleicht weil ich ohne sie
so vollkommen aus dem
Gleichgewicht geriet
wer hätte das gedacht
zum Glück hat die Balance
nur diesen einen Tag Ausgang
morgen ist sie wieder bei mir
dann hört der Schwindel auf.
Meine Gedanken
Meine Gedanken
sollten frei sein
wie ein Vogel sich
in die Luft erheben
fliegen ins Unendliche.
Meine Gedanken
sollten treu sein
der Wahrheit dienen
selbst wenn sie wandern
sich wundern sich wandeln.
Meine Gedanken
sollten dem Traum Raum geben
der Lüge Einhalt gebieten
über das Böse herrschen
und immer im Guten enden.
Frieden
Angst geht um
in der Welt
Krieg geht um
in der Welt
Tod geht um
in der Welt
das Wort Frieden steht
auf Messers Schneide
das Wort Frieden sticht
mitten ins Herz hinein
das Wort Frieden ist
weit weg am Horizont
mit weißer Feder geschrieben
in die Helligkeit des Tages
in den glutroten Himmel
in die Dunkelheit der Nacht
in den hoffnungsvollen Traum
das Wort Frieden
das Wort Frieden
in Zeiten des Krieges
das Wort Frieden
in Zeiten der Krisen
das Wort Frieden
in Zeiten wie diesen.
Fortschritt
So schreite ich fort
von innen nach außen
durch meine stille Seele
aus meinem Herzen
hinaus in die Welt
wo im selben Augenblick
die Sonne untergeht
der Mond erscheint
göttlicher Anblick
himmlische Natur.
Schlaf
Bedecke meine Schuld
mit schwarzem Linnen
will mir ein Segel nähen
für meine Träume
will in den dunklen Himmel fahren
den Mond grüßen und die Sterne
und das Licht des Tages
auf meiner weiten Reise
wenn mein Schiff mich
sanft hinüber trägt
in dieses Land
das so viel verspricht
hell zu sein und geneigt
Schönes zu bieten
küsst mich die Sonne wach
mein dunkles Segel
ist hell geworden
nie mehr will ich
zurückfahren.
Erinnerung
Den Stein der Erinnerung
wälzen vom Herzen
versenken ins tiefste
Gewässer
kein Zeuge weit und breit
nur der Himmel grollt
schickt Blitz und Donner
herab
und du schläfst ein
dicht an den Saum der Erde
geschmiegt im Schein
des Mondes.
Ein Wochenende
Das Wochenende kam ganz normal daher.
Ich sah es vom Fenster aus kommen.
Im Sonnenschein näherte es sich.
Schien schön zu werden und heiter.
Das Wochenende. Doch noch war Freitag.
Die vergangene Woche war okay gewesen.
Alles in trockenen Tüchern ohne großes Tamtam.
Manch Wichtiges viel Unwichtiges erledigt.
Doch dann kam Haiyan der Sturmvogel.
Machte uns einen Strich durch die Rechnung.
Fegte über die Philippinen mit über 300 kmh.
Der stärkste Taifun der jemals das Land traf.
Von 3 Toten spricht man. Zunächst. Dann von 100.
Dann von 1.000. Dann von mehr als 10.000.
Man spricht von 620.000 Obdachlosen.
Man spricht von fast 10.000.000 Betroffenen.
Von Tacloban. Überspült. 220.000 Einwohner.
Von der Hauptstadt der Insel Leyte.
Jetzt erdbodengleich. Chaos. Hunger.
Verzweiflung. Gewalt. Leichen. Verwesungsgeruch.
Aber auch vielfache Hilfe und wundersame Geburt.
Und hier: Die vier Lübecker Märtyrer sind
dem Meer des Schweigens entrissen.
Ihre Gedenkstätte ist von Dauer.
Erstdruck zum Lohengrin-Vorspiel
entdeckt. In allen Stimmen. Ein Schatz.
Die Narren erobern das Rathaus.
Olympische Winterspiele 2022 gibt es
nicht in München nicht in Deutschland.
Eine 48jährige Autofahrerin ist mit 3,14
Promille im Straßenverkehr unterwegs.
So steht es in der Zeitung vom Sonntag.
Das Wochenende ist fast vorüber.
Gleichzeitig
In der Gegenwart
geschehen alle Dinge
gleichzeitig wie jeder weiß
ein Zug bahnt sich seinen Weg
das Gras zittert am Rand
Blumen neigen die Köpfe im Wind
ein Kind erkennt es ist kein Kind mehr
eine Mutter vergibt ihrer Tochter
eine Tochter weint um den Mann
eine Geliebte träumt von ewiger Liebe
eine Hure erhängt sich im Haus
eine Libelle schwirrt in der Luft
ein Kuckuck ruft im Wald
ein Mann sieht rot
eine Frau trägt die Schuld
eine Großmutter faltet die Hände
ein Greis beugt sein Haupt
Kinder spielen am Brunnen
Frauen tragen Krüge zum Wasser
hier zittert die kalte Nacht
dort flirrt der heiße Tag
hier erfriert ein Mensch
dort verdursten viele
hier ertrinkt ein Mensch in der Flut
dort strömen Menschen hinaus
auf die Straße übers Wasser hinweg
fliehen sie in irgendein anderes Land
und wenn sie nicht gestorben sind
so leben sie noch heute.
Angst
Angst haben vor der Angst vor der Angst
vor der Fremdheit des Fremden im Fremden
der Wildheit des Wilden im Wilden
der Traurigkeit des Traurigen im Traurigen
der Macht der Mächtigsten der Macht
der Ohnmacht der Ohnmächtigen ohne Macht
der Leblosigkeit der Lebenden im Leben
der Lieblosigkeit der Liebenden in der Liebe
der Zerbrechlichkeit der Zerbrechlichen im Zerbrechlichen
Angst haben vor der Angst.
Schattenreich
Schatten spielen mit
geflügelten Worten
hier und jetzt
da und dort
rufen locken
aus weiter Ferne
von fremden Ufern
spielen im Wüstensand
in tosenden Wellen
führen dich
geistesgegenwärtig
durch die Irre
pressen sich still
an deine Brust
atemlos vor lauter Glück
Gefährten der Nacht
Gefährten von einst
Schatten von jetzt.
Flieg kleine Taube
Flieg kleine Taube flieg
flieh vor der Kälte
in tiefen Tälern
im Schatten der Bäume
auf den Gipfeln der Berge
flieh vor dem zornigen Wind.
Flieg kleine Taube flieg
flieh vor den lauten Menschen
vor gebrechlichen Verhältnissen
vor zerbrochenen Träumen
vor haltlosen Nächten
flieh vor dem stummen Schrei.
Flieg kleine Taube flieg
schwing dich auf vom Saum der Erde
flieg weit und hoch hinauf
flieg übers Häusermeer
flieh vor der Haltlosigkeit
flieh vor dem ewig Gleichen.
Flieg kleine Taube flieg
über Bäche Flüsse Seen Meere
über die graue Linie hinweg
mitten hinein ins Ungewisse
mitten hinein in die Ewigkeit
flieh kleine Taube und flieg.
Kleine Taube III
Schweige nicht kleine Taube
sage mir was du siehst
bei deinem Flug über die Erde
schweige nicht sei nicht still
erzähle mir was dein Herz berührt
was deine Seele erfasst
erzähle mir von Liebenden
deren Blicke Hände Herzen
einander berühren halten
die noch in der Ferne Nähe spüren
die nichts voneinander trennt
auch im Entferntesten nicht
erzähl mir von einem Liebsten
der mich kennt hält trägt
dessen Gewissheit mich hebt
über alle Ungewissheit hinweg
dessen Zuversicht mächtiger ist
als alle Ohnmacht der Welt
so dass ich mich betten kann
in deinem weichen Federkleid
verborgen geborgen
vor allem Unbill der Welt.
Alles in allem ist das Ganze
Sehnsucht ist ein Teil meines Lebens. Und was wäre ich ohne meine Gedanken, in welche Richtung sie auch wandern mögen. Noch gehört Frieden zu meinem deutschen Alltag. Und auch der Fortschritt, der immer schneller tickt, der uns vorauseilt, dem wir – so schnell wir auch sind – immer und ewig hinterherhinken, auf Teufels Fuß. Nur der Schlaf deckt alles zu. Zum Glück? Der Schlaf gebiert Träume, in denen auch das geschehen kann, was im täglichen Leben nicht geschieht. Schlaf, Träume, Erinnerung – sie gehören zu unserem Leben, zu mir, sind Teile des Ganzen, das ich bin. So wie die Liebe dazugehört. Was wären wir, was wäre ich ohne sie? Manchmal aber hat auch die Liebe keine Chance. Dann packt mich die Angst. Dann befürchte ich, was an Unrecht auf der Welt geschieht, in Gegenden, die noch weit fort sind von meinem Lebensraum, könnte hierherdringen, könnte gleichzeitig auch hier geschehen, könnte meinen Lebenstraum nach Frieden hier und dort und überall endgültig zerstören. In solchen Augenblicken schicke ich meine kleine Taube auf den Weg, meine Friedenstaube, die nicht schweigt, die berichtet und erzählt, mir Ruhe gibt im Chaos. Meine kleine Taube, in deren Federkleid ich mich bergen kann, bis ich wieder Herr meiner Ängste und Sorgen, meiner Atemnot und Machtlosigkeit, meiner Kümmernis und Besorgtheit geworden bin. Solange, bis ich nach dunkler Nacht am helllichten Tag wieder aufstehen kann gegen alle Widrigkeiten des Lebens, wieder lieben und leben und an das Gute im Menschen glauben kann. Jeden Tag aufs Neue. So wie es nach jedem Tag wieder eine Nacht gibt und nach jeder Nacht wieder einen neuen Tag.
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BIO
Marion Hinz, 1946 in Bad Schwartau geboren, lebt seit 1982 vor den Toren Lübecks in Stockelsdorf (Kreis Ostholstein, Schleswig-Holstein). Aus Liebe zum Wort und um schreibend ihren Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete sie mehr als zwei Jahrzehnte als Journalistin. Die Autorin ist Mitglied der GEDOK Schleswig-Holstein und war von 2006 bis 2012 ehrenamtlich im GEDOK-Bundesvorstand als Fachbeirätin für Literatur tätig. Marion Hinz schreibt Theaterstücke und Kurzgeschichten, vor allem aber Gedichte. Veröffentlichungen sind u.a. in Anthologien und Literaturzeitschriften erschienen. Ihr Lyrikband „Leicht ist mein Herz“ erschien im Frühjahr 2015 im Husum Verlag.
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