Kerstin Hensel
Foto : Zimmermann
(Deutschland)
DENKZEICHEN
All over Baldower!
Die ich nicht nutzen kann die Zeit
Wächst
Wie die schwarzen Petunien am Feldrain
Wie das Sichelkraut wächst sie
Wie die Nasen gestandener Lügner
Die Freßzellen Kriegshungriger
Noch sitze ich oben
Spähe Spottdrosseln aus
All over Baldower!
Muselmänner Moselmädchen
Katholisch katapultische Richtlinien
Jeckenjagd mit roten Lappen
Auf Tandträger Thoratänzer
Typen mit dreierlei Geschlecht
Alle haben sie einen Knall
Hörst du Artemis rot-
Welsche Dirne
All over Baldower!
Die ich nicht nutzen kann die Zeit
Will mich nicht länger behalten
Stößt mich vom Hochsitz
Der Feldstecher springt
Aus dem Dauerprogramm wo die Häsin
Den Wolf besteigt
***
Der Titel klingt wie ein Fanal. Baldower nennt man Gauner, Betrüger; gerissene Auskundschafter, die Dunkles im Schilde führen. Das Wort jiddischen Ursprungs ist dem Rotwelsch entlehnt. Die Assonanz all over Baldower spielt mit dem dumpfen Jargon der Abseitigen/Unterprivilegierten.
Der Text hebt an als Klage. Die ich nicht nutzen kann die Zeit… Es ist unsere Zeit, um die es geht. Ich werde von mir reden, um den Verlust verständlich zu machen. Und doch ist das Ich ein anderes.
Zeit – im Urklang: zit, zid, ti-di, di, da(i), das heißt: teilen, zerschneiden. Die Bedeutung steckt ebenfalls im Wort Zeile. Zeit schneidet Zeit, trennt Stunden/Tage/Jahre ab, wie ein Gefangener täglich das Maßband kürzt, um dem Tag seiner Freilassung sichtbar näher zu kommen. Auch das Ich im Gedicht ist gefangen: es sitzt in der Falle der Vergeblichkeit. Es kann die ihm gegebene Zeit nicht nutzen. Offen bleibt, um welchen Nutzen es sich handelt. Sind es in Sehnsucht verhaftete Leidenschaften? Verblühte Hoffnungen? Unerreichte Weltveränderungsziele? Oder alles zusammen? Mögliche Antworten auf die Frage nach der Bedeutung der Zeit kann man bei Platon, Kant, Heidegger u.s.w. finden oder am Stammtisch ausklamüsern.
Mir gibt die tickende Lebensuhr Antwort: meine Zeit wächst. Das Wachsen der Zeit ist ihr Fortschreiten. Die Gedanken erweitern sich, gehen über das Unvermeidliche dahinein, wo sich die Menschheit befindet. Im Dauertrubel des Daseins, in der Rotationsmaschine Konsum, in der Abwehr von Innehalten und Besinnung. Alles soll wachsen, expandieren, sich entgrenzen. Noch der kleinste Widerstand wird von Datenerfassern ausbaldowert – so klingt das Vorprogramm zum Gesellschaftskollaps.
Wo befindet sich das Ich? Was schiebt sich ihm vors Auge? Blumen am Feldrain. Man ist also in der Natur, schön. Doch Petunien tragen Trauer, im Sichelkraut ist das Todessymbol verwahrt. Welt kommt ins Spiel. Ungebremstes Wachstum all over. Blöde Verheißungen, Falschmeldungen aus allen Kanälen. Was der Holzpuppe Pinocchio als drollige Lügennase wuchs, erweist sich bei Menschen als fieser Zinken. Kriegstreiber und Kriegslüsterne aller Länder: die Freßzellen des Terrors verschlingen, was sich ihnen in den Weg legt.
Der folgende Vers klärt die Perspektive. Das Ich sitzt oben. N o c h ! Womöglich handelt es sich um einen Hochsitz, den Jäger benutzen, um Wild auszuspähen. Das Poeten-Ich späht Spottdrosseln aus. Wer immer sich hinter dem Ich verbirgt: es scheint seinen Job nicht ernst zu nehmen und den Berufsstand des Waidmanns durch Untertreibung zu denunzieren. Statt Hirsch, Hase oder Wolf im Visier zu haben, guckt es nach kleinen frechen Singvögeln.
All over Baldower! Was könnte die Obensitzende, wenn sie im Wald die Welt blickt, sehen/hören? Schreien, Blöken, Röhren als archaischer Missklang, der eine Hetzjagd evoziert. Sinnloses Gegeneinanderkrachen religöser Ansichten; das Belfern der Aufklärungsphobiker; Ideologenpalaver; hartleibiges Auspressen von Reformexkrementen w.z.B. totalitärer Gendermainstreaming, militanter Veganismus, Cyber Mobbing, Entsagungsfanatismus oder Flatratesaufen. Inmitten des herausgewürgten Unterhaltungsgewölles: blankgewichstes, sprachpolizeilich kontrolliertes Correctness-Deutsch; Anrufung von Pop-Götzen; das geile Gesellschaftsspiel „Cupcake-Barbie versus Hungertod-Barbie“; die Heiligsprechung des Performativen und Authentischen; Brunftschreie globaler Mördergesellen – – –
Das Ich kriegt die Krise, will Menschen um sich herum und stellt den Feldstecher scharf: In den neu geschlagenen Lichtungen sieht es Wesen in lustigem Fummel mit sich selbst tanzen. Gestalten, die mehr scheinen, als sie existieren. Die nicht wissen, wer oder was sie sind. Die ihr Geschlecht verleugnen, die Lust des Einander-Begehrens der Furcht opfern, die Kontrolle über sich verlieren zu können, weil wirkliche Verzweiflung, wirkliche Leidenschaft sie verunsichern würde. Wesen, die dennoch/deswegen eine Sehnsucht nach Außerordentlichem, Grenzsprengendem in sich tragen. Eitle Dauerironie verheißt ihnen Rettung. Was ihnen vielleicht helfen würde, wäre die Spottdrossel – Gelächter über das, worin sie sich verirrt haben.
Ein Hakenschlag in die Antike. Der Olymp, der Hochsitz. Alle haben sie einen Knall lautet das Resümee von Artemis. Die Göttin der Jagd und des Mondes hat den Durchblick. Sie spielt auf der Lyra und schwenkt im nächsten Augenblick die Fackel. Unzähmbar ist sie, schön, zerstörerisch. Sie schützt Frauen und Kinder, das, was das Leben trägt. Aber Artemis‘ Jagdbezirk ist verkommen. Wald- und Wiesenwächter haben sie ausgespäht und die Göttin als (rot)welsche Dirne abgestempelt.
Die Zeit, mit der das Ich hadert, entläßt sich selbst aus seiner Aufgabe, steigt vom Hochsitz und treibt sich in die roten Lappen. Bei der Lappjagd (auch „Teutschte Jagd“ genannt) werden rote Lappen auf Leinen gehängt. Das Tier schreckt zurück, aber immer wieder durchbricht eines die Absperrung, „geht durch die Lappen“. Es ist mein Ausbruch, mein Aus-der-zeit-geworfen-Sein.
Noch immer allerorts Baldower. Das Endbild. Der Dauerverlust nutzbarer Zeit hat das Ich geschwächt und es gleichsam vor der fatalen Endlosigkeit des Wahnsinns bewahrt. Der Feldstecher tut seinen Dienst nicht mehr: das Sehfeld wird unscharf, aber real. Das Reale zeigt sich als inszeniertes Dauerprogramm wo die Häsin / Den Wolf besteigt. Was wird gespielt? Eine Farce? Ein modernes Gender-Drama? Was macht der Wolf mit der Häsin? Schüttelt er sie sich vom Pelz wie eine Zecke? Bezichtigt er sie der Rassenschande? Hat er Angst vor ihrer Lust, der Hasenfuß? Läßt er sich durch ihre Übergriffigkeit in die Impotenz treiben? Lacht er sich tot oder wird er sie reißen? – Und die Häsin? Nimmt sie ihren alten Freßfeind hops? Ist sie waidwund von verschmähter Liebe? Kein Rammler in Sicht? Verwechselt sie gar das Raubtier mit einem Mümmelmann? Macht sie sich nur einen Jux daraus, den Zähnefletscher zu provozieren? Oder leugnet sie die Gefahr, die von der Situation ausgeht?
2015
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Kurzbio-Bibliografie
Geb. 1961 in Karl-Marx-Stadt, Krankenschwester, Studium am Institut für Literatur Leipzig 1983-1985, Arbeit am Theater, seit 1988 freiberuflich als Schriftstellerin, seit 2001 Professur für Poetik an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. Lebt in Berlin.
Mitglied der Akademie der Künste Berlin sowie der Sächsischen Akademie der Künste.
Auszeichnungen, u.a. Anna-Seghers-Preis, Leonce-und-Lena-Preis
Veröffentlichungen: Zahlreiche Erzählungen, Romane, Gedichte, Theaterstücke, Essays. Zuletzt: „Federspiel – 3 Liebesnovellen“ (Luchterhand, 2012). „Das verspielte Papier“ (Poetikessay, Luchterhand 2014), „Schleuderfigur“ (Gedichte, Luchterhand März 2016)
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