Ilse Hehn
(Rumänien-Deutschland)
IM WINTER MOSKAU
An diesem Januar-Nachmittag fliegen
wir über die Kuppeln der Basilius-Kathedrale,
schauen hinab auf den Roten Platz, Nuancen von
Weiß vermessen das Pflaster,
am Spasskij-Turm die goldene Uhr von
grauem Himmelsrotz beschmiert.
Wind faltet die Menschen zusammen – geknickte
Scherenschnitte der Unruhe, Hast. Zwischen dem Eis
sagt eine Frau hier ist Gott. Wir aber
haben die Geige, die Sanftheit der Liebenden, das
noch ungeborene, im Bauch der Stute geschützte Fohlen,
den Flieder.
Etwas zerspringt da unten, der Glaser kommt,
setzt neue Scheiben unter den Schnee, Trug.
Die Stadt wirft die alten Kleider nicht ab,
Geschichte liegt ihr wie Wörter auf der Zunge.
In der Kathedrale gesellig warm, Touristen,
irgendwo Kleckse von Fliegenscheiße vom
letzten Sommer, verderbte Freude befällt mich beim
Zusehen, wie eine Ikone ihren Zeigefinger hebt
hinter dem langen Vers der Religion.
Ein Entlüftungsventilator brummt störrisch,
voller Kapriolen.
Lass uns, Chagall, lass uns verschwinden
in die sanften Augen der Pferde,
Witebsk*, dort leuchtet der Samowar als
vollendete Sonne und ohne Rottönungen die Sterne,
wer wünscht sich nicht Flügelkraft über
den Launen des Seils,
wer dächte an Grenzen, wenn wir umarmt
durch deinen Bildraum schweben.
*Witebsk/Weißrussland: Geburtsort von Marc Chagall
Sag mal, hält man mich dort unten immer noch für tot? *
(Bei Nietzsches Grab / Röcken, Oktober 2016)
die Stunde wechselte von einem Fuß auf den anderen
berührte kaum die Hüte der Bäume
an der Kirchenmauer das Grab – eine leere Vase
wenn das Dunkel sich entzündet und
atmet im engen Kahn
in die Brunnen von Röcken fiel Herbst
es regnete in Häuser mit
Wasser wie das Fell eines Hasen
der Himmel Grabstein
wartete auf den Zug
der kam am Arm eines zerbrochenen Gleises
an diesen Ort ohne Bahnhof
Lou löste sich von den Kleidern der Reisenden
diesen schwankenden Gardinen aus Asche
sagte vor dem Grab
hier ist er nicht mehr lass uns gehen Paul Rée
mit stumpfen Fingern färbte der Tag seinen Teint
in Farben fehlenden Schnees
Poeten streuten Papier eine kurze Oktoberzeile
auf die graue Porphyrplatte
in ihren Köpfen der Schatten der Worte
die schon längst gesagt waren als er sich aus der
Umklammerung der Schwester löste und davonmachte
an ein Ufer ohne Kreuze
von wo er zu den Berggipfeln gehen kann
die einzigen vielleicht mit denen er reden möchte
die Krähen schrein
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt
in Manteltaschen klimperte der Duft von Geld
ran an die Braunkohle ihr Bagger **
ran an den längst ausgeweideten Bauch der Erde!
abseits stand er ohne zu frösteln
hinter der Deckung Nacktheit ***
Dionysos Caesar Narr ****
dem Rauche gleich
der stets nach kältern Himmeln sucht
nachmittags trugen einige
weiterhin Gedichte vor uns blieb nichts erspart
spät am Abend trank man in Lützen Whisky auf ex
hinter Barhockern wurde gerade noch rechtzeitig
Nietzsche zu Ende gebracht der Nacht soff der Motor ab
*Erik Satie
**Nietzsches Grabmal war beinahe der Auflösung geweiht: Der Gemeinde Röcken drohte 2997 ein Braunkohleabbau, wobei die Gebeine Friedrich Nietzsches umgebettet werden sollte. Unterdessen wurde vorläufig der Plan ad acta gelegt
***Anlehnung an das Nietzsche-Denkmal, die Skulpturengruppe von K. F. Messerschmidt in Röcke (siehe Foto)
****Namen, die sich Nietzsche in seinen Wahnzetteln gab
In kursiv: Original Nietzsche
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BIO
ILSE HEHN, Schriftstellerin und bildende Künstlerin.
Geboren in Rumänien/Banat, Studium Bildende Kunst an der Universität-West/Temeswar, danach Gymnasiallehrerin für Kunst und Kunstgeschichte in Mediasch/Siebenbürgen. 1992 Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland, seither in Ulm als Dozentin tätig.
19 Buchveröffentlichungen, Lyrik und Prosa, zuletzt
- Heimat zum Anfassen oder: Das Gedächtnis der Dinge. Donauschwäbisches Erbe in Wort und Bild: Fotografie und liter. Texte. Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2013;
- Kopfpolizei Securitate, Gedichte, Collagen, Malerei, zweisprachige Ausgabe (deutsch-rumänisch), Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2013;
- Das Ulmer Münster in Wort und Bild, Gedichte von R. M. Rilke, Fotografie Ilse Hehn, Gerhard Hess Verlag Bad Schussenried, 2015;
- Tage Ost – West, Gedichte und Überschreibungen, Pop Verlag Ludwigsburg 2016;
- Ulm erleben, Fotografie und Text, Gerhard Hess Verlag Schussenried 2017;
- Sandhimmel, Gedichte und Übermalungen, danubebooks Verlag Ulm, 2017;
- Schreiben im Exil, Anthologie des Exil-P.E.N. Sektion deutschsprachige Länder/ Mitherausgeberin, Pop Verlag Ludwigsburg 2016. Die Anthologie beleuchtet Grenzgänge zwischen Nationen, Sprachen und Religionen in ost-westlichen bzw. süd-nördlichen Perspektiven und ist ein bezeugendes Dokument von Kulturvermittlung zwischen den Staaten.
Für ihr literarisches Werk wurde Ilse Hehn mit nationalen und internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet.
Übersetzt wurden Gedichte der Autorin ins Japanische, Französische, Englische, Rumänische, Russische, Serbische, Ungarische.
Ilse Hehn ist Vizepräsidentin des Internationalen Exil-P.E.N. Sektion deutschsprachige Länder.