Frieder Schuller
(Rumänien – Deutschland)
Sicher wird Ihnen bewußt sein, daß Sie als Schriftsteller ein großes Thema im Gepäck mit sich führen, dem Sie sich stellen sollten; weiß ich doch aus eigener Erfahrung, daß der Verkust von Heimat erst dann total wird, wenn man den geographischen Verlust auf die gesamte Substanz ausdehnt. Ihren Gedichten lese ich ab, daß Sie dieser Gefahr nicht erliegen werden. Freilich glaube ich, in dem Ihnen aufgebürdeten Thema eher epische Ausmaße zu erkennen: Siebenbürgen ist ja mehr als ein gegenwärtiger Zustand, vielmehr ist es in seiner vielschichtigen Vergangenheit ein Exempel mehr für die nivellierende Tendenz großräumiger Machtpolitik.
Günter Grass
ich breite zwei jahrzehnte
visitenkarten aus
ein kleiner weißer friedhof
in meinem zimmer
um die stehlampe summen die namen
einen fernen choral
vom vorigen jahr gibt es noch wunderkerzen
eine orchidee bietet geschäftsreisen an
ich hab ihre telefonnummer vergessen
dabei war sie vergraben im bauch
als ich sie einmal vor sehnsucht auskotzte
hob ich sie auf von der straße und wischte sie ab
sie paarte sich am tischrand mit dem kleingeld
mischte gift dem fremden anruf in den ton
und machte sich schlau zwischen
anderen nummern im notizbuch von wo
sie den nächstern apparat besprang
jetzt ist sie weg
meine finger stottern zahlen
bestimmt hat sie mit der auskunft
ein verhältnis
100 jahre bertolt brecht
für seinen werbespruch
ein auto in dem man überlebt
erhielt herr b. nach überstandenem unfall
einen neuen wagen
für seine anderen werbesprüche
gab es nach größerem unfall bis
heute keinen neuen kommunismus
ich gehe über den friedhof
während der arbeitszeit
sehe auf alle andern
von oben herab
schaue auf die steine
wie jemandem in die karten
ich bin erreichbar
halte das handy in stillem gebet
wie unzuverlässig das vergessen
wenn küsse reißnägel im gedächtnis
zigarettenrauch dein haar
von einem mitfahrer erzählt
ganz unfachmännisch versagt das gewöhnen
vielspurig abwegig streifen
gelöschte tonbänder weiter die stirn
u-boote bewaffnet mit mädchen
starten traumbereit
und hinter der kaffeeschale
heben sich schlagbäume
nachtfalter bieten losungsworte an
ein dunkler teppich ausgebreitet ins auge
und weiter ganz weit applaudiert eine tanne
aus den knien tastet sich ein foto hoch
ein satz verlässt den chor
auf deinen schenkeln wankt die bühne
im zuschauerraum droht anschnallpflicht
liana vorübergehend bleibt noch
das schaufenster holt aus zum letzten hallo
doch sie entwirft mit den knien ein kleid von versace
wonach die straße zwei autos in den kuss treibt
aus venedig hält eine gondel an doch keiner sieht es
hier li auch a dort na und schlange stehn um ha
so knallt um die knöchel ihr name eine zirkuspeitsche
auch wenn sie jetzt weht von einer akazie auf flügelsandalen
am telefon zerbricht das gespräch denn liana zertritt
die blume am ohr und gießt den eisbecher
über das nachmittagfieber bis ins gemüt gibt sie fersengeld
und legt sich in den kopf als lesezeichen im mini
die sonne zieht schatten aus lianas nackten schritten
so kann sie endlich loslegen als dauerregen und
der bleibende stolpert angetrunken von der mädchentraube
wirrwar streift den mai wer will ein gemunkel
ein verkäufer von sonnenuhren
treibt sich in hinterhöfen herum
er preist am gemäuer seinen schattenzeiger an
erzählt von der zeiten spurensuche
doch nur die dämmerung hält ihr versprechen
gottes wort haust am kreuzweg
ohne schloß und riegel überhörbar
eine kornblume ist des händlers ausweis
und zwei störche fliegen seine tagesthemen ein
als rutengänger sucht er sich gehör
gießt aus markenlosen karaffen klaren trübsinn
die worte tropfen wie aus kaltgepressten abschiedsbriefen
in des schlafes vorraum liegt die post herum
fledermäusen gleich flattern vergessene strafzettel
der verkäufer von sonnenuhren
verschwindet im staub der milchstraße
verloren am morgen
die haare reichen noch ins gesträuch
versteckte herden verlassen die stirn
der augen blick übt das weite feld
heller entläßt der spiegel
die endlose geschichte
um den mund beginnt ein wandern
dem inland zugewandt
in der kaffeeschale versinkt
ein weißes klavier
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Frieder Schuller – geboren in Siebenbürgen, Studium der Theologie und Germanistik. In Rumänien bis 1978 Kulturredakteur und Theaterdramaturg. Gedichte in deutscher Sprache, u. a. Ausgespielt – Dacia Verlag. Ein letzter Band, Mit rotem Wein viel lieber – Albatros Verlag, sowie Theaterstücke (Umzug) unterlagen der Zensur. Günter Grass ermöglichte darum die Ausreise in die Bundesrepublik. Hier Drehbücher und Gedichte, u. a. Paß für Transsilvanien – Urheber Verlag Bonn, Einladung zu einer Schüssel Palukes – Edition Parnaß Bonn. 1986 Andreas Gryphius-Preis, dann Dokumentar- und Spielfilme, u. a. Der Glockenkäufer, erster Spielfilm über den Heimatverlust der Siebenbürger Sachsen, Im Süden meiner Seele, Paul Celans Bukarester Jahre. Zweimal Filmprämie des Bundesinnenministeriums. 2005 Deutsch-rumänischer Gedichtband Abschiedsgerüchte – Albatros Verlag Bukarest, 2006 Mein Vaterland ging auf den roten Strich – Hora Verlag Hermannstadt. Unveröffentlichte Gedichte aus dem Kommunismus. Weiter Drehbücher und Prosa. Nach 1990 Inszenierung des mehrsprachigen Kulturtreffens von Katzendorf in Siebenbürgen.
2011 Einrichtung und Vergabe des Dorfschreiberpreises von Katzendorf.
2012 Uraufführung des Theaterstücks um die Jahre Oskar Pastiors in Rumänien Ossis Stein oder der werfe das erste Buch.