Andra Rotaru
(Rumänien)
nachts gleiten lemuren und menschen aufeinander zu
die jungen körper schleichen
an den alten körpern vorbei.
der milchduft verwandelt sich in einen herben
weinduft.
die halbaffen riechen es. beißen die handgelenke.
beißen die arme, welche sie so weit getragen haben.
die körper hängen. riesige aufgeschlitzte bäuche,
auf der einen und der anderen seite des weges.
ruhende kadaver.
ähneln aus der ferne haufen von faulen äpfeln.
auf der anderen seite des weges die frischen kadaver.
sie ähneln roten, fleischigen, lebendigen äpfeln.
eine weiße flüssigkeit durchströmt sie.
die kaum sichtbaren munde blieben offen.
ihre rundungen.
wasser schießt aus ihren nasenlöchern, überfließt das trockene fleisch.
Neu
man ist fremd
in einem schönen haus, nach langer zeit.
kaum wurden die leeren gegenstände
gefüllt,
kaum wurden die alten kanten entfernt.
in einer vollkommenen sauberkeit ihr leises lachen,
das gehen auf zehenspitzen.
bei jedem meiner schritte erheben sie ihre köpfe.
sie legen sich auf meine brust, wenn das herz sich begradigt
wie ein alter mann in der wüste.
dort verweilen wir zusammen, wenn
die mittagssonne am stärksten strahlt.
mit warmen schnauzen bitten sie darum, meine luft wechseln zu dürfen.
ich atme vor ihren nasenlöchern, und sie tragen die brise in sich.
hier enden die wüsten Gebiete.
in einem schönen haus, in welchem ich keine zeit habe
umherzuziehen oder zu warten, die hand
auf eure köpfe legen.
die feine beschaffenheit eures fells spüren.
meine zeit reicht nur, um weiterzulaufen, um die neuen türen zu schließen,
die alten trockenen kanten zu begießen
mit dem in den fäusten zerquetschten obst. als ob
der durch zarte körper zustandegekommener Appetit
überhaupt nicht existieren würde
Stille
er löste sich aus dem schlimmsten winkel und schritt voran.
gegen mittag ist die entfernung zwischen gliedern und himmel
derart gering,
dass die augen sich mit frischer brotkrume füllen.
das ist kein schlaf,
in der ferne brüllt ein tier; bis zu ihm
durchscheint ein licht das gestrüpp, meile für meile.
*
er hatte sich ein tuch auf die kehle gedrückt, um sich nicht mehr zu hören,
den gesten der weibchen folgend
und den an der brust gewogenen säuglingen.
wenn der wind wehte, dann löste sich die membrane von der kehle
-sie waren zehnfach zu hören
aus ihrer gegerbten haut-
er kauerte sich nieder und wartete,
drehte an den weichen alveolen in den handflächen,
bis sie nachgaben.
die bindung zwischen ihnen schien aufgelöst in den augenblicken,
in welchen
er die ersten wesen
in die stille leitete
trieb.
* (Gedichte von Lemur, Andra Rotaru, editura Cartea Românească, 2012)
Übersetzung: Jan Cornelius
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Andra Rotaru (geb. 1980, Bukarest, Rumänien). Die Dichterin arbeitet an der Schnittstelle zwischen mehreren Künsten. In den letzten Jahren realisierte sie zahlreiche intermediale Projekte. Die Tanzperformance Lemur – aufgeführt von dem Choreografen Robert Tyree an verschiedenen Orten in den USA und in Europa – erkundet die Beziehungen zwischen Poesie und Tanz. Der Dokumentarfilm All Together – entstanden 2014 im Rahmen des „International Writing Program” der Iowa University) – verwischt die Grenzen zwischen Poesie, Fiktion und Videokunst. Das Projekt Photo-letter pairing – realisiert mit der lokalen Gemeinschaft in Iowe und mehreren Schriftstellern – erkundet die Poesie-Fotografie-Beziehungen. Andra Rotaru las in zahlreichen Städten in Europa, den USA und Mexiko, u.a. in New York, Chicago, Portland, Iowe, Dubuque, Cedar Rapids, Mexico City, Puebla. Ihre Gedichte sind in mehreren Sprachen übersetzt worden. Veröffentlichte Bücher: Într-un pat, sub cearșaful alb (Gedichte, 2005, 2015, übersetzt ins Spanische unter dem Titel En una cama bajo la sábana blanca, 2008); Ținuturile sudului (Gedichte, 2010); Lemur(Gedichte, 2012). Die amerikanische Übersetzung des Gedichtsbands Lemur erscheint im Herbst 2017 bei Action Books.