Alexandru Potcoavă
(Rumänien)
dichtkünste mietspiegel manifeste
nachrufe und derlei
ich glaube an freunde und was
sie glauben ihre sache
wieauchimmer
blicken das leben und der tod
mich im rückspiegel
an wie gestörte
wie verwirrte umarmen sie sich
mitten auf der fahrbahn
während ich in vollem tempo
von beiden abstand gewinne und
es juckt mich genau irgendwo wer
vor mir den durchgehenden mittel
streifen streicht
petre stoica
ich fühle das gebälk meines kopfes zusammenkrachen
wie der dachstuhl eines alten hauses unter dem gewicht
der toten tauben birst
ihr kot der sich jahrelang angesammelt stürzt
seinerseits in die zimmer die skelette mit
den luftige knochen schweben noch eine weile im raum
was aber niemand kümmert
ich fühle wie die lungen in mir
weit ihre violetten flügel ausbreiten wie engel
wenn zigarettenrauch in sie dringt
und sie fliegen ohne voneinander zu wissen
engelsgleich während ich auf dem sessel platz nehme
und mir nach meinem tod sehe und fühle
costel
mit dem tornister auf dem rücken
zwanzig kilogramm klamotten wäsche
und schläppchen hetzt er den zug nachhaus
zu erwischen nach einem weiteren monat
im spital und der krebs frisst an seinen hoden
und beeilt sich den zug nachhaus zu kriegen
costel wird seine kleider waschen und sauber
für noch einen monat zurückkehren
während seine ärzte überlegen
sollen sie ihn herausschneiden oder nicht
und er seinerseits immer seltener rasieren wird
den hodensack den gedunsenen
aus dem der tod jeden augenblick
ejakulieren kann
lanyi
sie haben dich an den isonzo geschickt mit einem kompass um den hals
den sternchen als kadett am kragen und dem ungläubigen blick
dich wahrscheinlich so auch beerdigt
mit dem kompass den sternchen und dem ungläubigen staunen
auf dem kuk friedhof in stanjel
dein mütterchen wurde mit einer photographie des grabes abgefunden
das sie nicht erreichen konnte
und wie beindruckend jener friedhof war
hunderte von kreuzen die eine inschrift beherrschte
filiis optimis – patria grata
wie feierlich alles und frisch gekalkt und unumkehrbar
auf der rückseite der sterbeanzeige die du zuhaus aufbewahrt hast
und die schwarz umrandet das attentat von sarajewo bekanntgab
hat dein mütterchen ihre ausgaben vom märz 1921 aufgeschrieben
in rumänischen lei nahm das leben seinen fortlauf
stanjel fiel an jugoslawien
befindet sich jetzt in slowenien
aus eure gräbern ist eine grüne wiese geworden
nur das mahnmal mit der inschrift
den besten söhnen – das dankbare vaterland
steht noch
unter meinen augen solang ich es sehen
und dir sagen kann
dass ein vaterland das es nicht mehr gibt
sich deiner erinnert
durch einen fremden
olivia
wir lernten uns bei einem großen literaturfest kennen
untergebracht waren wir im gleichen internatszimmer
eines beruflichen gymnasiums dieser provinzstadt
ein wunder dass es so etwas noch gibt
kein wunder dass es so ausschaut
fensterläden statt vorhänge zwei nachttischchen
zwei betten zwei kissen zwei decken
eingeschlagen in bezüge aus weißer kunstseide und
wir rein zufällig
winters bei zehn grad celsius mittendrin
dir ist kalt ich werfe meine decke über dich
na gut und du?
ich nehme den bezug
du wirfst mir die decke zurück ich werfe sie
wieder auf dich du zurück ich wieder zurück
bis du aufgibst und zusammen mit ihr
neben mich kommst
wir haben uns damals geliebt
ohne dass izabela corina andrada ines
andreea adela cristina loredana anca
und all die anderen die ihre namen
der wand jenes internatszimmers anvertraut hatten
das jemals vermutet hätten
Aus dem Gedichtband „eines tages werden wir uns nicht mehr wiedererkennen“
Übersetzung: Hellmut Seiler
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KURZ VITA
http://alexandru-potcoava.blogspot.fr/
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BIO
Hellmut Seiler
Geboren 1953 in Rupea/Rumänien, Studium der Germanistik und Anglistik. Gymnasiallehrer.
1985-88 in Rumänien Berufs- und Publikationsverbot, seither in der Bundesrepublik.
Mitglied im VS und im Internationalen P.E.N. Club, Zentrum deutschsprachiger Autoren.
Veröffentlichungen
- die einsamkeit der stühle, Gedichte, Dacia Verlag 1982
- siebenbürgische endzeitlose, Gedichte, dipa Verlag, Frankfurt a.M. 1994
- Grenzen, Gänge, Gedichte, lyrik2000, München 2001
- Glück hat viele Namen, Prosasatiren, Verlag der Künstlergilde, Esslingen 2003
- Zahlreiche Beiträge (Lyrik, Aphorismen und Satiren) in Anthologien, Zeitungen und Literaturzeitschriften
- Übersetzung von Romanen von Rodica Draghincescu (aus dem Rumänischen): Die Distanz zwischen einem bekleideten Mann und der Frau wie sie IST und Streuner.
Preise und Auszeichnungen
- Adam-Müller-Guttenbrunn-Preis 1984
- Literaturpreis der Künstlergilde, Esslingen, für Prosa 1998
- Literaturpreis der Künstlergilde 1999 (1. Preis für Lyrik)
- Stipendium des « Writers’ and Translators’ Centre of Rhodes », Mai-Juni 2000
- Würth-Literaturpreis der Tübinger Poetik-Dozentur 2000